Wo später Berge von Blumen lagen, stand ich noch wenige Tage zuvor und amüsierte mich über die mechanischen Bewegungen der Wachsoldaten im Hof des Buckingham-Palastes. Als ich von Prinzessin Dianas Unfall erfuhr, saß ich gerade im Zimmer einer B&B-Unterkunft in Brighton. Ich wollte noch weg und schaltete den Fernseher nur kurz ein. "Die spinnen ja, die Briten!", wunderte ich mich kopfschüttelnd, denn auf sämtlichen Kanälen wurde über nichts anderes als über das englische Königshaus und über Prinzessin Diana berichtet. Schon in den beiden Wochen zuvor waren mir in der "Tube" auf dem Weg in die Londoner City die Schlagzeilen in den Zeitungen aufgefallen, die von nichts anderem als "Didi, Dodi, Dada" handelten; die Leute schienen diese Geschichten regelrecht aufzusaugen... "Die haben se ja echt nicht mehr alle!". Und dann realisierte ich, warum auf einmal alle Fernsehkanäle vom selben Thema berichteten: Prinzessin Diana schien bei einem Autounfall ums Leben gekommen zu sein! Na sowas - da war ich das erste Mal in England, und dann gleich so etwas...





Dieses Wochenende wollte ich einmal raus aus der stinkenden und hektischen Metropole, um einen Freund aus Deutschland zu besuchen, der seit einigen Jahren in der Nähe von Brighton wohnt und sich dort als Musiker seinen Lebensunterhalt verdient. Nebenbei betätigt er sich als Geistheiler und veranstaltet wöchentlich ein "Friendly Event" mit Live-Musik und "Talks on health, spirituality, ecology, lifestyle...". Ich verabredete mich mit ihm am Meeting House der Uni.





Moni hatte ich während eines Zen-Sesshins in Urnäsch, einem kleinen Dorf nahe Appenzell kennengelernt. Ich war extra über 700 km weit gefahren, um daran teilzunehmen; ich hatte eine Dokumentation des Schweizer Fernsehens darüber gesehen, die mich damals sehr ansprach ("Zen in Urnäsch"). Für Moni war es das erste Mal überhaupt, daß sie sich mit Zen befaßte, und dann gleich ein Sesshin - das machte Eindruck auf mich; ich hatte immerhin schon mehrere Male probeweise in einem nahen Dojo "gesessen" und wußte ungefähr, was auf mich zukam...





Beim Zen der Soto-Schule scheint es im Gegensatz zu Sanbo-Kyodan nicht üblich zu sein, daß während eines Sesshins ganztägiges Schweigen gilt, und so kamen wir miteinander ins Gespräch. Wir redeten über "Gott und die Welt", und ich erfuhr, daß sie in Zürich Ethnologie studierte. Ziemlich ungewöhnlich, dachte ich noch, denn was macht man mit Ethnologie...? Nach dem Sesshin hielten wir Briefkontakt, auch als sie später nach England ging, um für ein Jahr an der University of Sussex in Falmer bei Brighton zu studieren.





Dann war da eines Tages dieser Anruf auf meinem Anrufbeantworter. "Guten Abend Stefan, da ist Felix", tönte eine Stimme mit schweizerischem Akzent aus dem kleinen Lautsprecher, "Ich bin ein Bruder von Monika, die sich vor etwa zwei Wochen das Leben genommen hat und die du gekannt hast."



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Tja, offenbar hatte ich sie nicht gut genug gekannt, denn sonst hätte ich die versteckte Botschaft in ihrem letzten Brief, den sie mir nach ihrer Rückkehr aus England geschrieben hatte, sicher bemerkt. Er war mir schon so komisch vorgekommen, er klang so resigniert und teilweise widersprüchlich - ganz anders als ihre bisherigen Briefe. Das heißt, eigentlich waren klare "Alarmsignale" zu erkennen gewesen, aber daß es tatsächlich schon so ernst war, habe ich nicht relaisiert. Und ihre Eltern auch nicht.

Das Jahr in England war wohl die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen, bevor sie wieder in die beklemmende Enge ihres Elternhauses in Zürich zurückkehrte, wo sie in ein tiefes seelisches Loch fiel, aus dem sie nicht wieder herausfand. Ihre Eltern fanden ihren leblosen Körper eines Tages an einem Baum im Garten. Als ehemalige Pfadfinderin hatte sie den Knoten sehr sorgfältig ausgeführt.



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Am darauffolgenden Wochenende fuhr ich mit dem Zug nach Zürich, wo Felix mich schon am Bahnhof erwartete. Zusammen fuhren wir zu Monis Elternhaus. Hier hatte sie also gelebt. Ich hatte Monis letzten Brief dabei - die Familie erhoffte sich ein wenig mehr Klarheit, aber alles, was ich ihnen geben konnte, war meine Anteilnahme.

Ich erfuhr - hauptsächlich durch Felix - einiges über die familiären Hintergründe. Als das jüngste von drei Kindern hatte Moni ständig unter Leistungsdruck gestanden. Als Kind hatte sie Magersucht. Sie hatte immer hohe Ideale und stellte hohe Anforderungen an sich selbst. Sie fühlte sich persönlich verantwortlich für die Umwelt und für das Elend in der Dritten Welt, weshalb sie wohl auch Ethnologie studierte und in der Entwicklungshilfe tätig werden wollte. Aber konnte das alles eine Erklärung sein? - Konnte es überhaupt eine Erklärung für das Unfaßbare geben?



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Am Abend - es war mittlerweile dunkel geworden - ging die Familie hinaus in den Garten. "Das machen wir jeden Tag", sagte der Vater. Es wurde eine Kerze unter dem Baum angezündet und es erklang die "Pavane pour une infante défunte" von Maurice Ravel - die fassungslosen Eltern einander eng umschlungen.





Und nun - fast ein Jahr später - war ich also hier in England, wo Moni die glücklichste Zeit ihres kurzen Lebens verbracht hatte - unter Gleichgesinnten, voller Enthusiasmus und Lebensfreude, wo sie - naturverbunden, wie sie war - die Berge Snowdonias sowie den Lake District durchwanderte und fotografierte - sie fotografierte leidenschaftlich gern. Hier stand ich also nun vor dem Meeting House, einem einzeln stehenden, von Bäumen umgebenen Rundbau mit verschiedenen Gemeinschaftsräumen und einer Kapelle - alles sah genauso aus wie auf Monis Fotos.

Da gerade Semesterferien waren, war der Campus fast menschenleer. Es herrschte eine drückende Hitze, wie schon die beiden vergangenen Wochen zuvor. "So heiß war es hier schon lange nicht mehr", hörte man Einheimische sagen. Ich ging hinein in die Kapelle - drinnen war es angenehm kühl, und das Sonnenlicht fiel durch die vielen bunten Glasbausteine und erzeugten eine stille, aber freundliche Atmosphäre. Trotzdem herrschte eine irgendwie seltsame Stimmung. Hier war sie also gewesen; ich versuchte, es mir bildlich vorzustellen. Warum hatte es nur so kommen müssen? Sie war doch erst 23 und hatte alle Möglichkeiten dieser Welt. Und sie war so voller Pläne...

Ich schrieb eine Gedenkkarte und befestigte sie an der Tafel, zusammen mit den Wünschen und Gebeten anderer Studenten.





Draußen traf ich den Pfarrer, der sich sofort an Moni erinnerte. Er sagte aber, er habe sie nur einmal kurz gesehen, da er zu dieser Zeit gerade die Stelle des alten Pfarrers angetreten hatte.

Das Bäumchen, das ein Jahr zuvor anläßlich des Trauergottesdienstes neben dem Meeting House für Moni gepflanzt worden war, gedeihte prächtig...






In Memoriam Monika Schlenk